Der in München lebende britische Komponist Graham Lack reagiert auf die flächendeckende Krise der Musik- und Veranstaltungsszenerie und hat ein neues Modell für Auftragswerke geschaffen, er nennt es Mikrokompositionen oder Die Kunst des kleinen Schaffens. Besondere Zeiten erfordern besondere Konzepte. Kaum eine andere Branche ist so sehr von der Pandemie betroffen wie die der Kultur. Theater, Opernhäuser und Musiksäle blieben lange Zeit geschlossen. Der Konzertbetrieb „live“ war zwischenzeitlich lange eingestellt. Festivals, Tourneen und einzelne Veranstaltungen fanden nicht statt. Gagen und Honorare konnten nicht fließen. Existenzen waren bedroht. Was blieb, war viel Zeit. Zeit zum Nachdenken und künstlerischen Schaffen im persönlichen Rückzugsort des Lockdowns. Je länger diese Situation andauerte, je stiller es wurde, desto mehr verstanden wir alle: trotz Corona, die Musik darf nicht verstummen. Was jetzt auf uns zukommt, weiß kein Mensch. Klar ist, es wird länger dauern, bis der Musikbetrieb wieder in vollem Gange sein wird und es eine „neue Normalität” gibt.
Zur Ausgangssituation des Lockdowns und zum Hintergrund seines ungewöhnlichen Konzepts sagt Graham Lack folgendes: „Es gibt kaum ein Flugzeug am Himmel. Und kaum ein Auto auf den Straßen. Irgendwie fühlt sich der Tag ungewöhnlich lang an. Das wirft die Frage auf, was genau man mit diesem Tag anfangen soll. Wie sollten wir als Komponisten verantwortungsvoll mit unserer Zeit umgehen? Wir sollten, nehme ich an, Kunst machen. Denn das ist es, was wir tun. Aber wir müssen realistisch sein. Jetzt, da so viele Aufträge der letzten Zeit auf eine spätere Saison verschoben wurden, vielleicht auf zwei oder sogar drei Jahre in der Zukunft, ist es eine ziemliche Herausforderung geworden, ein neues und umfangreiches Werk für sehr großes Orchester in ein Programm zu platzieren. Darüber hinaus ändert sich die Konzertplanung weiterhin täglich.“
Diese scheinbar ausweglose Lage hatte den Komponisten nachdenklich gemacht, und er stieß eher zufällig auf den Namen Muhammad Yunus. Ein Unternehmer, Bankier und Ökonom in Bangladesch, der 2006 den Friedensnobelpreis für die Gründung einer neuartigen Bank und für seine bahnbrechenden Konzepte von Mikrokrediten und Mikrofinanzierung erhielt. Graham Lack überlegte, ob und wie sich dieses Konzept auf die Musik übertragen ließe.
„Vielleicht wäre die Idee der Mikro-Auftragswerke eine attraktive Möglichkeit mit einem Tonkünstler zusammenzuarbeiten. Was wäre, wenn das neue Stück weniger als eine Minute Aufführungszeit hätte? Und angenommen, der Auftraggeber würde ein ‚Open-EndHonorar‘ anbieten, das dem wahrgenommenen Wert im idealen Sinne entspricht?“, so der Komponist. Aus diesen Fragen und weiteren Überlegungen entstand das Konzept der Mikrokompositionen, mit dem Graham Lack bei renommierten MusikerInnen, KuratorInnen und VeranstalterInnen sofort auf positive Resonanz stieß. Auf seinem Schreibtisch liegen im Moment viele Skizzen und zahlreiche viele Ideen, um eine größere Anzahl neuer Werke in kürzester Zeit zu schaffen. Die Motivation zum Komponieren ist nach einer, wie er sie nennt, brachliegenden Periode zurückgekehrt, und viele der Partner, mit denen der Komponist erfolgreich und teilweise seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, sind begeistert von dem Projekt.
„Wir alle haben große Hoffnungen, dass es auch unter mildernden Umständen ein LivePublikum geben wird. Die kommenden Mikrokompositionen decken eine ganze Palette von Stilen ab; die möglichen Besetzungen reichen von einem einzelnen Instrument bis zur Kammermusik, von Vokalensembles und Chören bis hin zu, ja, Kammerorchester und großem Orchester. Wann und wo genau und unter welchen Umständen die neuen MikroKompositionsaufträge das Licht der Welt erblicken werden, bleibt natürlich abzuwarten. Und wenn das eine oder andere neue Werk mehr als einmal in einem Programm auftaucht, umso besser,“ so Graham Lack.
Kompositionswettbewerb Unternehmen Gegenwart 2021
1. Preisträger Graham Lack
Beim diesjährigen Kompositionswettbewerb des Vereins zur Förderung zeitgenössischer Musik Regensburg (Unternehmen Gegenwart e.V.) gewann Graham Lack mit seiner Komposition „Fremde Ferne“ den ersten Preis. Das Werk vertont den frei übersetzten Text aus „L’infinito“ des italienischen Dichters und Philologen Giacomo Leopardi (1789 -1837) und greift damit das Motto des diesjährigen Wettbewerbs „Nahsicht“ rhetorisch und beobachtend auf, so als ob der Dichter beim Schaffen seines Werkes einsam auf einem Hügel säße und sein Blick in die Ferne schweifen würde.
Im Rahmen des Nachtkonzerts des Regensburger Kammermusikfestivals (25. September 2021, 22.00 Uhr) wird „Fremde Ferne“ zusammen mit zwei weiteren Preisträgerkompositionen (Bastian Fuchs, 2. Preis und Afamia Al-Dayaa 3. Preis) von dem Vokalensemble StimmGold in der Regensburger Minoritenkirche uraufgeführt. Graham Lack hat seine Komposition für sechs Stimmen, Violoncello und Schlagwerk geschrieben. Er lässt in seinem Stück das Vokalensemble als Protagonisten und das Cello als antwortende Stimme agieren. Es entsteht eine bittersüße im Raum schwebende, erweiterte und nicht funktionale Tonalität. Am Ende des Werkes gibt es eine kurze grafisch notierte, frei improvisierte Stelle für Cello und Schlagzeug.
Beim diesjährigen Wettbewerb erreichten die Jury insgesamt 59 Einsendungen aus Deutschland und der Welt. Der erste Preis ist mit € 1.500 dotiert, wofür sich das Kammermusikfestival Regensburg finanziell verantwortlich zeichnet.
www.graham-lack.com
www.unternehmengegenwart.com/kompositionswettbewerb
Foto: Astrid Ackermann